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der Finsternis vorgestellt hatten. Wir hätten es besser nicht
gesehen.
Wie alle anderen klammerte ich mich schließlich an der
Bootswand fest, um nicht über Bord gespült zu werden. Und
wartete.
Irgendwann gewöhnt man sich an alles, nach einer Weile zu-
mindest, sogar an den Gedanken, sterben zu müssen.
Ich wartete weiter.
Wir waren alle nass bis auf die Haut und zitterten im kalten
Wind.
Die nächste Welle wird uns in die Tiefe reißen, dachte ich.
Oder die nächste.
Oder die übernächste.
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Schemenhaft sah ich die ersten Menschen über Bord gehen,
ihre panischen Schreie konnte niemand hören, der Sturm und
die peitschenden Wellen waren viel zu laut. Es war auch eine
Frau dabei, die mit ihren beiden Kindern von einer Sturzwelle
erfasst und ins tobende Meer gerissen wurde.
Einen Augenblick später waren sie verschwunden.
Ich schloss die Augen.
Und wartete.
Das nächste Mal bin ich dran.
Ich begann zu überlegen: Lass los. Lass einfach los. Jetzt
oder beim nächsten Mal, was macht das für einen Unter-
schied? Du hast immer gewusst, dass das Meer dein Schicksal
sein wird. Lass los, Ismael.
Aber ich kämpfte weiter, verbissen hielt ich mich auf meinem
Platz. Unser Steuermann umklammerte das Ruder, das längst
nicht mehr funktionierte. Vielleicht war der Motor inzwischen
endgültig ausgegangen, doch auch wenn nicht, würde er uns
nirgends mehr hinbringen.
Ich bin erst fünfzehn, das ist einfach nicht gerecht. Ich habe
noch nie den Eimer getragen für Zulima, die dritte Tochter
von Akim, dem stummen Fischer.
Und dann, für einige unendlich lange Sekunden, oder
Minuten, oder gar Stunden, wer weiß, dachte ich gar nichts
mehr.
Ich wartete.
Bei der nächsten Welle passiert es.
Das Boot wurde noch oben gerissen, bäumte sich auf und
klatschte schwer auf das Wasser zurück.
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Wer war jetzt noch an Bord, wer war ins Wasser gerissen
worden? Ich wusste es nicht.
Für einen Moment öffnete ich die Augen. Dann schloss ich
sie wieder.
Die nächste Welle.
Sie war es.
Sie kam eiskalt und hinterhältig, blind für alles um sie her-
um, so unaufhaltsam, wie es nur Meereswellen sein können.
Sie packte uns von der Seite, riss das Boot in der Mitte ausein-
ander, als wäre es ein Grashalm, und rollte dann weiter, ohne
zu begreifen, was sie gerade angerichtet hatte.
Irgendwann würde sie zusammen mit den anderen Wellen
am Strand auslaufen, dort, wo unsere Hütte steht.
Ich stürzte ins strudelnde Meer, wie von einem hohen Mast,
jetzt würde ich in die Tiefe sinken und sterben, mit offenen Au-
gen und geballten Fäusten.
Das war mein letzter Gedanke.
Liebe Mutter,
das ist mein allererster Brief an dich. Ich stelle mir vor, wie
Mohammed, der Briefträger, eines Tages mit dem Fahrrad
über den Strand fahren, an unsere Haustür klopfen und dir
den Brief übergeben wird! Natürlich erst, nachdem er sich
höflich zum Gruß an die Stirn, den Mund und das Herz getippt
hat, wie er es immer tut. Du wirst überrascht und aufgeregt
sein, vielleicht hast du sogar feuchte Hände. Meine beiden
Schwestern, aufdringlich wie immer, werden auf der Tür-
schwelle auftauchen und dich fragen: »Mutter, von wem ist
der?«
»Von eurem Bruder«, wirst du voller Stolz antworten.
Ich sehe sie vor mir, die Nachbarinnen, die neugierig an-
gelaufen kommen und dich beneiden werden. Soweit ich weiß,
hat in unserem Dorf noch nie jemand einen Brief bekommen.
Doch ich kann nicht gut schreiben, meine liebe Mutter, der
Lehrer mit dem schwarzen Kittel hat es mir mit seinem Stock
nicht einprügeln können. Sicher, einige Wörter, meinen voll-
ständigen Namen, auch zwei ganze Sätze, wenn ich mich sehr
anstrenge.
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Außerdem kannst du gar nicht lesen.
Und deshalb schreibe ich dir diesen Brief nicht auf dem
Papier, sondern ich denke ihn. Ich schreibe ihn in meinem
Herzen und in meinen Gedanken, obwohl ich nicht weiß, ob er
jemals bei dir ankommen wird.
Aber vielleicht kannst du ja in meinem Herzen lesen, selbst
wenn wir so weit voneinander entfernt sind, selbst nach so
langer Zeit, selbst wenn ich unten auf dem Meeresgrund liege.
Vielleicht gibt es auch ein Amulett, das du zu Hilfe nehmen
kannst, oder eine geheime Formel, wie das Symbol, das du uns
Kindern damals auf die weiße Wand im Schlafzimmer gemalt
hast.
Die Frauen der Wüste kennen sich aus mit Magie, der Wind
bringt sie ihnen bei.
Ich schreibe dir, damit du weißt, wie es mir geht. Und auch,
weil ich Angst habe. Aber du darfst nicht traurig sein, Mutter,
das musst du mir versprechen, sonst schreibe ich dir nicht
mehr.
Als ich von zu Hause weggegangen bin, habe ich gesagt:
»Ich weiß nicht, wie ich dir sagen soll, ob es mir gut geht.«
Und du hast geantwortet: »Sieh einfach zu, dass es dir gut
geht.« Nicht einmal »Mit Gottes Hilfe« hast du hinzugefügt.
Du hast damals am Wasser gestanden und aufs Meer
geschaut, in Richtung der Schornsteine. Ich weiß nicht, wie
sehr du unter dem Abschied gelitten hast, du hast ja nichts
gesagt.
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Der Besitzer des Restaurants und Yves waren sehr freund-
lich. Sie sagten: »Wenn du in Talien angekommen bist, ruf an,
dann sagen wir deiner Mutter Bescheid.«
Sie haben mir Zahlen auf ein Stück Papier geschrieben und
ich habe es zusammen mit dem Geld in meine Unterhose
gesteckt. Ich fragte mich, ob es wohl kompliziert sein würde,
in Talien zu telefonieren.
Aber ich werde dich nicht anrufen.
Ich habe sie alle sterben sehen, Mutter.
Die meisten sind sofort ertrunken, nachdem sie über Bord
gegangen waren. Einige schafften es, immer wieder
aufzutauchen, ich habe im Licht der Blitze sehen können, wie
sie mit den Armen ruderten und verzweifelt nach Luft
schnappten. Alle hatten Todesangst und haben geschrien,
oder jedenfalls bildete ich mir das ein, denn das Rauschen des
Meeres, der prasselnde Regen und das Heulen des Sturms
überdeckten alle anderen Geräusche.
Dann waren sie nicht mehr da.
Der Alte mit dem weißen Bart & [ Pobierz caÅ‚ość w formacie PDF ]

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